Jona Jakob |
Jona Jakob schreibt: "Schon als Kind hatte ich wenig Interesse, wie ein Tourist zu reisen oder gar an touristische Orte. Es waren die 60er- und 70er-Jahre. Es gab noch nicht zu viele Autobahnen. So musste man zwischen Genf und Loriol lange mit dem 2CV oder einem Käfer durch die Berge fahren, um auf die Route-du-Soleil zu gelangen. Oder ab Valencia war fertig mit Autobahn bis in den Süden Spaniens. Oder wollte man von Bern in den Süden, so mussten Pässe mit luftgekühlten Autos geschafft werden oder Tunneldurchfahrten. Super aufregend und beängstigend zugleich: Fahrten mit dem Nachtzug von Bern nach Berlin - Ostzone, stundenlange Zollkontrollen, Liegewagen, Halblicht, Pässe vorweisen, Schnüffelhunde. Und mit etwas Glück hatte man eine massive Dampflokomotive angespannt und in Berlin-Tiergarten morgens dann verrusste Nasenlöcher.
Schreibtisch im Prozess |
Später, jugendlich und in der Lehrzeit die vier Wochen
Sommerferien mit dem EuropaInterrail-Ticket. Fahren bis zum Abwinken. Manchmal
mit Absicht einen Nachtzug gewählt, um wo übernachten zu können. Auf diese
Weise England und ganz Skandinavien erfahren, Polarkreis inklusive.
Autostopp war ein probates Mittel, in Hippiezeiten nach
Südfrankreich zu gelangen, oder an die Atlantikküste, nach Mimizan, Nantes,
Auray und Trinité sur Mer. Später dann, mit 18, erste Fahrten mit Freundin oder
Geliebte ins Baskenland, ein letztes Mal mit Muttern nach Portugal im Renault
R4.
Ich wollte bloss nicht touristisch. Lieber nicht gebucht,
nur einfach los, zum Abend einen Ort fürs Übernachten suchen, ob wild gezeltet,
auf Campingplätzen, kleinen efeubewachsenen Hotels. Häfen waren stets mein Ziel
im Ort. Schiffe wären mein Zuhause gewesen.
Es kamen Istanbul, Griechenland, Italien dazu, die
Beneluxstaaten, Deutschland immer mal wieder. Am meisten aber verbrachte ich
Zeit in Boisset-et-Gaujac, einem Weiler im Midi, in der Nähe von Uzès oder
Anduzes. Ok, es gab noch Jahre in den italienischen Dolomiten, im Kurort
Recoaro bei Vicenca. Wichtig: wir blieben bei den Menschen.
Auch in der Schweiz war reisen und herumziehen möglich. Ich
war lange Pfadfinder und so standen Zeltlager an und sonst Abenteuer.
Ich bin als Sohn deutscher Eltern 1962 in Bern geboren.
Europa? Europa. Bei uns zuhause, in der Schweiz der 60er,
wurden der STERN und DER SPIEGEL gelesen. Zonenblöcke, Kalter Krieg, EWR / EU,
Mauerfall. Ich erlebte noch Breschenjew und sonst die alte Garde an
Weltpolitikern. Uns faszinierte teilweise die RAF, einfach des Politterrors
wegen, der noch Ziele nannte - diffuse Ziele, aber Ziele. Herrhausen tot,
Schleyer auch. Die Kunst äusserte sich in PopArt und Kinski. Drogen waren im
Haushalt nie ein Thema, aber Revolte schon. TV. Dann Farb-TV, dann
Kabelfernsehen. Mondlandung, Muhamed Ali. Nixon.
Ich, ich wurde Popper. Rimini-Disco, erste Armani-Labels,
Versace, Bulgari. Idol: American Gigolo. Ablösung von Zuhause, Auszug mit 15,
erste eigene vier Wände, Lehrzeit, Mobilität. Ich war mit 18 Erwachsen und fand
mich wichtig. Schweizer werden? Nö, wozu? Müsste Militär absolvieren und würde
gerne im europäischen Ausland arbeiten. Also Deutscher geblieben, bis heute.
Heute lebe ich nach weiteren 25 Jahren Zürich in Frankfurt und fühle mich
angekommen.
Europa ist für mich ein Lebensthema, auch jetzt, wo es
nationalistische Tendenzen zeigt und wenig Loyalität. Immer wieder hat es mich
krank gemacht, z.B. als es die 1-Cent-Münze erfand … Krämer - dann gab es
Momente der Hoffnung, Öffnung und Freiheit. Internet war geil, Street Parade,
Yuppie-Konjunktur.
So unterscheide ich in meinem Leben ein Europa vor der Zeit
des Internets und ein Europa mit Internet und der damit einhergehenden
Globalisierung. Heute langweilt es mich bisweilen und ich interessiere mich für
Rumänien oder Beirut. Es muss leben. Und es darf in meiner Lebenszeit nicht zum
Gottestaat verkommen. Ich liebe den gewonnenen Laizismus und all die damit
verbundene Denkerei der Philosophie. Europa, das sind für mich Menschen, die
tief reflektiert einen unheimlichen Kulturschatz schufen. Kriege, Strömungen,
Lehren, Techniken und dieser Reichtum an Kulturen und Glaubensrichtungen
schufen einen endlosen Event, der einfach nur Früchte trug. Der Schatz der
Griechen, der Einfluss der Muselmanen, Wetter, Hunger, Kälte. Napoleon. Alle
Dichter und Denker. Die Seefahrerei, was für Verrückte damals. Oder Kirche
versus Königshäuser, ein Gewinn, auch wenn es nicht immer so aussah und es
viele Leben kostete. Das "alte" Europa ist nicht alt. Es ist reif.
Und diese Reife und der Grad an Selbstreflexion überzeugt mich heute noch. Das Beste, was man mir erfüllen konnte, war eine Zeit in der
Fremde, wo ich unter den Leuten leben durfte, allenfalls mitarbeiten, im Alltag
integriert sein. Bloss nicht die Distanz des Touris aufkommen lassen.
Europa, das ist auch Gelesenes. Ich begann mit Oriana
Fallaci, was Vietnam, Griechenland und zuletzt ihr geliebtes Italien bedeutete.
Ich las selbstverständlich alle Asterix & Obelix, eine Geschichte Europas
per se. Aus Italien ebenso geistreich und humorvoll: Fruttero & Lucchetini.
Aus Frankreich las ich Houellebeqc oder Anais Nin, Sartre oder Camus, die mich
allesamt ans Leben führten. Aus Spanien den Don Quixotes. Gotthelf Keller stand
für die Schweiz. Sloterdijk, Peter Handke, Nietzsche, wie Botho Strauss für
Textgut aus Deutschland. Cioran und Jankélevitch für die Sinnlosigkeit und den
Tod. Hier ist keine Vollständigkeit zu erwarten. Würde ich noch die Musik
zuteilen, würde es ein Buch. Aber immer ist mir bewusst, Musik aus allen
Ländern zu hören. Wenn ich also Arno höre, dann weiss ich, das kommt aus
Belgien.
Jetzt, da ich hier schreibe, sitze ich im ICE von Frankfurt
nach Zürich. Ich nehme mir zwei Tage Auszeit, reise in zweckfreier Präsenz und
Empathie, der Zug musste wo über eine Stunde warten. Ich bin beständig unterwegs
und damit unter Menschen. Es ist mir wichtig, mit Ihnen am Tisch zu sitzen und
Gespräche zu teilen.
Ich war Jahre lang stolz darauf, mein Mannsein etwas
verloren zu haben. Jetzt, da so viele im Alltag auf Türsteher und
Gebrauchtwagenhändler machen, vermisse ich etwas Härte und Muskelkraft. Etgar
Kheret schrieb aber: "Lieber bin ich ein kluges Opfer als ein dummer
Täter." Europa beängstigt mich derzeit. Ich fürchte weniger die mögliche
Gewalt oder einen gewaltsamen Tod. Am Tod hänge ich nicht. Was ich fürchte ist
Lebenszeit, in der ich nicht frei denken darf und mein Schreiben und Mitwirken
verstummen müssten, wie es aktuell in der Türkei geschieht. Ich bin ein spät
entdeckter begabter Geist und nähre mich an Dingen, die etwas ausserhalb der
Norm liege, so wie Kühe, die den Kopf zwischen den beiden Drähten stecken um
Grass von der nächsten Wiese zu weiden. Schmeckt einfach besser. Würde man mir
da die Klauen stutzen und mich einstallen, würde ich zu Grunde gehen. Ich bin
vorbereitet und habe reich gelebt.
Jona Jakob und die Hündin Phibi in Frankfurt |
England schert konsequent aus und übernimmt eigene
Verantwortung. Die Oststaaten Europas lavieren hingegen feige und dämlich
stolz. Wofür? Für etwas Nationales, das kleinwenige, welches niemals das Ihre
war, weder als Volk, Staat, Anektion noch Errungenschaft. Europa ist für mich
ein ewiger Event, eine Gemengelage und Essigmutter. Europa ist ein Füllhorn.
Und alle versuchen kleinlich, es auszubremsen und zu separieren - äufnen
peinlicher Pfründe, für die man kein Recht zur Reklamation hätte. Aber man tut
so.
Enzensberger hilft mir mit seinem Buch der 'Wanderungen'. Er
beschreibt das Bild des Fahrgastes, der im 6er-Abteil eines Zuges alleine reist
und so beansprucht. Steigt beim nächsten Halt ein Fahrgast dazu, ist der Fremde
- sofort Fremder. Und bleibt das. Bis wieder später ein weiterer Fahrgast in
die Zelle tritt. Nun solidarisieren sich Fahrgast 1 und 2 gegen den
Dritten, den zuletzt zugestiegenen. Nun ist der der Fremde und die beiden
ersten meinen, sie seien sich bekannt. Ein schönes Bild.
Erst in den letzten Jahren fand ich, nach mehr als 40
Wohnadressen mein Zuhause. Ich liebe meine Partnerin Elke - und wichtiger noch:
sie liebt mich. Das alles begann mit der Entdeckung meiner Begabung mit 48.
Wäre dem damals nicht so gewesen, so dass ich mich selber orten und verstehen
lernen konnte, wäre ich heute vermutlich schon tot. Jetzt bin ich. Elke und
mich begleitet unsere fidele und leicht neurotische Hündin 'Phibi'.
Ich bleibe Mann und Europäer. Ob ich in Frankfurt sterben
werde, lasse ich offen. Constanta könnte eine Idee sein oder auch Ostende. Es
ist Herbst und ich erfreue mich am Vergnügen, traurig zu sein, meine geliebte
Melancholie - ganz besonders auf Reisen im Geiste.
Jetzt fällt mir gerade ein: Auch Küche wäre so ein Thema zu
Europa. Hab ich schon was zur Küche geschrieben? …"
Jona Jakob
Frankfurt
Frankfurt
Kontakt:
jj (at) consensus-coaching.com
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